Die Anna Polke-Stiftung vergibt jedes Jahr Stipendien mit einer Fördersumme von insgesamt 10.000 €. Gefördert werden Forschungsprojekte von Wissenschaftler*innen der Kunstgeschichte oder benachbarter Disziplinen, die Aspekte von Sigmar Polkes Schaffen aus aktuell relevanten Fragestellungen heraus neu betrachten. Die nächste Ausschreibung erfolgt Anfang 2025.
STIPENDIAT*INNEN 2024
Gökcan Demirkazik, Photographische Mythologien: Sigmar Polkes anti-anthropologischer Blick
In meiner Dissertation untersuche ich, wie und warum Sigmar Polkes Materialexperimente aus seinen Begegnungen mit der Welt, insbesondere mit den Gemeinschaften und Kulturen des imaginären Anderen im weiteren Sinne, hervorgehen. Ebenso beleuchte ich die daraus resultierenden künstlerischen Prozesse vor dem Hintergrund der deutschen Teilung: Die Feindseligkeiten und Solidaritäten des Kalten Krieges, der Zustrom von Millionen von Gastarbeiter*innen, die umstrittene kollektive Erinnerung (oder deren völlige Abwesenheit) an den deutschen Kolonialismus und den Holocaust machen Begegnungen mit dem Anderen – sowohl physisch als auch ideologisch – unausweichlich für die Konstitution von Subjektivität. Anders ausgedrückt: Was bedeutet es, in einer Ära verfestigter politischer Verhältnisse und unersättlicher kapitalistischer Ausbeutung bzw. Verdrängung von Materialien, Ressourcen und Bevölkerungsgruppen auf materieller Entropie, der Formbarkeit von Autor*innenschaft und der Rückbesinnung auf verschiedene – archaische oder toxische – Formen der Farberfahrung zu beharren?
Das Forschungsprojekt Photographic Mythologies: Sigmar Polke’s Counter-Anthropological Gaze (dt. Photographische Mythologien: Sigmar Polkes anti-anthropologischer Blick) knüpft an eine Reihe von Fragen an, die im Mittelpunkt meiner Dissertation stehen und die sich um das wachsende Interesse von Künstler*innen an außereuropäischen Kulturen und Anthropologie drehen. Wie andere Autor*innen bereits angemerkt haben, reicht die Beschäftigung von Künstler*innen mit dem Anderssein bis in die 1960er Jahre zurück. Diese Zeit ist geprägt von einer zwar generischen, aber oft phantastischen Ikonographie des Andersseins, für die Polkes periodische Verwendung und Neuerfindung der Palme als spöttisch exotisierendes Motiv charakteristisch ist. Doch schon in dieser frühen Phase zeigt sich auch PolkesVorliebe für die Kritik an erkenntnistheoretischen Strukturen, die durch seine eigenen ostentativ pseudowissenschaftlichen, diagrammatischen Versuche so etwas wie Mythen der Differenz produzieren und propagieren; Menschenkreis (Fotokreis) I (1968) und Pappologie (1968–69) sind solche Werke. Es ist kein Zufall, dass Polke in den 1970er Jahren mit dem Anthropologen und Filmemacher Michael Oppitz befreundet war – wie auch mit anderen Künstler*innen aus dem Rheinland, darunter Lothar Baumgarten und Candida Höfer – und so zu einem Knotenpunkt in einem Netzwerk von Künstler*innen wurde, die sich für (pseudo-)anthropologische Zugänge zum kulturell Anderen interessierten und sich mit der Geschichte von Kolonialismus, Tourismus und Massenmigration auseinandersetzten. Wie Oppitz’ Publikationsliste vermuten lässt, handelt es sich für die Anthropologie um einen Moment profunderSelbstreflexion, da die Disziplin langsam beginnt, sich mit ihren kolonialen und extraktionistischen Wurzeln auseinanderzusetzen und ihre Methoden zu überdenken. Und doch, wenn es die Aufgabe von Anthropolog*innen ist, die materiellen und immateriellen Kulturformen der Anderen zu erschließen, dann scheitern Polke und seine Reisen kläglichdarin, die Besonderheiten von Weltbildern, Glaubenssystemen und sozialen Strukturen in der Nähe und in der Ferne aufzuzeigen. Vor allem in seinen Dunkelkammer-Experimenten und Pigment-Interventionen zwingt er die Fotografie, ihren dokumentarischen Status aufzugeben, um der Imagination Raum zu geben. Am Ende hinterlässt Polke Anti-Dokumente, die sich der Instrumentalisierung von weltlichen Begegnungen und Fremdheit verweigern – und die ihre eigene vermeintliche Transparenz und Fähigkeit zur „Repräsentation“ ad absurdum führen.
Gökcan Demirkazık ist Kunsthistoriker, Kritiker und Kurator und lebt in Los Angeles, wo er derzeit an der University of California, Los Angeles, in Kunstgeschichte promoviert. Zuvor war er an der Gründung eines Zentrums für zeitgenössische Kunst in der ehemaligen Bomonti-Bierfabrik (heute Yapi Kredi bomontiada) in Istanbul beteiligt und als Programmassistent bei SALT (Istanbul) tätig. Demirkazık ist Absolvent des von der SAHA Foundation geförderten Ashkal Alwan’s Home Workspace Program (Beirut) und erhielt Stipendien von dem Institut für Moderne Kunst des LACMA und der Jan van Ecyk Academie (Maastricht). Seine Artikel sind erschienen in ArtAsiaPacific, Artforum, Art Review, Art Unlimited, di’van | A Journal of Accounts, Even, Frieze, m-est.org und LACMA’s Unframed.
Joanna Nencek, Die Entfaltung eines fotografischen Echos in Bildern und Objekten
Ich erinnere mich noch an meine ersten Begegnungen mit Sigmar Polkes Werken. Es war leicht, einen Zugang zu ihnen zu finden, denn aus Ihnen sprach der Humor des Künstlers und unser geteiltes Interesse, den Umgang mit dem Material sichtbar zu machen. Diese Aspekte sollen künftig auch in meiner eigenen künstlerischen Arbeit eine größere Rolle spielen. Das Stipendium der Anna Polke-Stiftung unterstützt mich dabei, dem Experiment und dem Zufall, die für eine solche Arbeitsweise entscheidend sind, den ihnen gebührenden Raum zu geben.
Wie Sigmar Polke vertrete ich ein erweitertes Verständnis von Fotografie als Medium. Vorrangig gilt mein Interesse dem unauflösbaren Wechselspiel von Wiedererkennung und Abstraktion in Bildern und Objekten. Anhand von verschiedenen digitalen und analogen Verfahren provoziere ich den Übergang von zweidimensionaler Bildlichkeit in räumliche Gebilde. Motivisch gehe ich dabei von aussortierten, unbrauchbar gewordenen Gegenständen aus. Das für mich interessante Inventar reicht von ausrangierten Schalen, Kerzenständern, Keksdosen und Behältern aller Art bis zu Fenstern, Türen und Duschglas, meist dekorativen Charakters.
In einem ersten Impuls eigne ich mir diese online gefundenen Alltagsgegenstände in Form von Screenshots aus einem Kleinanzeigenportal an, welche in der Rubrik „Zu Verschenken“ mit Fotografien bebildert werden. Diese meist zügig und mittels Smartphone hergestellten Bilder werden zu Negativen umgewandelt, um anschließend im analogen monochromen Druckverfahren der Cyanotypie auf Papier oder Stoff gebracht zu werden. Mit dem Ziel, den angestrebten Grad an Abstrahierung zu erreichen, werden Eingriffe wie das Bearbeiten der Negative oder das Tönen des Bildträgers zwischengeschaltet. Mein weiteres Vorgehen im Umgang mit den inserierten Gegenständen ist, diese tatsächlich bei den Anbieter:innen abzuholen und zu fotogrammieren. Zuletzt entstanden auf diese Weise großformatige Farbfotogramme von Glastüren.
Durch das Stipendium möchte ich einen Ansatz weiterentwickeln, bei dem sich Fotografie und Bildhauerei in meinen Arbeiten verbinden. Das Sammeln großer Mengen Fotopapierabfalls im Fotolabor meiner Universität ermöglichte mir ausgiebiges Experimentieren mit der Stabilität dieses Materials. So wurden 80 cm lange Rollen aus Fotopapier mit einem Durchmesser von 2,5 cm zu Grundbausteinen von skulpturalen Konstruktionen. Mithilfe unterschiedlicher Rohrverbinder werden diese zu regal- und schrankähnlichen gerüstartigen Strukturen zusammengebaut. Die Oberfläche der Rollen verrät, dass es sich um ehemals lichtempfindliches, entwickeltes Fotomaterial handelt – in der Dunkelkammer erzeugte Farbverläufe, analoges Korn und als weiße Flecken sichtbar gewordener Staub auf den Negativen sind eindeutige Anzeichen für ein Material fotografischen Ursprungs.
Ein Spannungsverhältnis aus der verfremdeten Wiedergabe der Gegenstände und der uns
vertrauten Anmutung ihrer Form, ihres Materials und ihrer Dimension baut sich auf. Die industriell gefertigten Massenprodukte, Ausgangspunkt meiner Arbeit, werden zu handgefertigten Unikaten – ein Zustand, welcher dem eigentlichen Ursprung dieser Dinge entspricht. Die Ergebnisse dieses künstlerischen Projektes werden die Grundlage meiner Masterabschlussarbeit bilden und im kommenden Jahr im Rahmen einer Ausstellung präsentiert.
Die Künstlerin Joanna Nencek bewegt sich in ihrer Praxis am äußersten Rand des Fotografischen und arbeitet dabei bevorzugt ohne Kamera. Geboren in Krakau, lebt sie seit ihrem 14. Lebensjahr in Deutschland und war zunächst im sozialen Bereich tätig. Sie studierte Fotografie und Zeitbasierte Medien an der Folkwang Universität der Künste in Essen und schließt dort derzeit ihr Aufbaustudium im Masterstudiengang Photography Studies and Practice ab. Ihre Arbeiten waren in Gruppenausstellungen u. a. im Folkwang Museum, Essen, im Kunstpalast, Düsseldorf und in der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste, Düsseldorf, ausgestellt.
Mona Schubert, Queering Visions? Sigmar Polkes Fotoserie São Paulo (1975)
Während der Laufzeit der 13. Bienal de São Paulo (1975) begleitete Sigmar Polke den Künstler Blinky Palermo und Evelyn Weiss, die Kuratorin der westdeutschen Beiträge, auf einem Stadtspaziergang. Dabei fertigte er die Fotoserie São Paulo an, die die Besucher*innen einer Schwulenbar der brasilianischen Metropole ins Zentrum rückt. Bei genauerer Betrachtung der spontanen Aufnahmen stellt sich die Frage, ob das fotografische Erfassen dieser queeren Gemeinschaft in einem ihm fremden kulturellen Kontext als widerständig, als voyeuristisch oder sogar als kolonial gefärbt betrachtet werden kann. Denn die LGBTQIA+-Szene im von der Militärdiktatur geführten Land konnte sich öffentlich nie so frei präsentieren und benötigte diese Schutzräume.[1] Während Polkes fotografischer Beitrag Athanor
auf der Biennale di Venezia (1986) mehrfach besprochen worden ist,[2] steht eine Untersuchung der am Rande der São Paulo-Biennale entstandenen Fotoserie noch aus. Mein Forschungsvorhaben nimmt sich diesem Desiderat an, indem es die ambivalent zu lesende Serie nicht nur (foto-)historisch verortet, sondern auch aus verschiedenen theoretischen Perspektiven beleuchtet.
Einem intersektionalen Ansatz folgend wäre zunächst anzumerken, dass das Fotografieren queerer Menschen des Globalen Südens aus Perspektive eines heterosexuellen, cis-männlichen und westlich geprägten Blicks die Gefahr birgt, diese Gemeinschaft zu objektivieren, indem sie als andersartig dargestellt wird. Susanne Huber rückt von dieser essentialistischen Betrachtungsweise ab und argumentiert, dass ein queeres Kunstwerk nicht zwangsläufig eine queere Autor*innenschaft erfordert und auch queere Künstler*innen hegemoniale Gesellschaftsordnungen aufrechterhalten können.[3] Polkes Position innerhalb der westdeutschen Fotoszene der 1970er Jahre soll daher konkretisiert werden, welche sich verstärkt mit Geschlechtsidentitäten, binären Rollenverteilungen und sexueller Orientierung auseinandersetzte.[4]
Meine Analyse zieht ferner Ansätze der postkolonialen Fototheorie heran, um Polkes Position als europäischer, sehr erfolgreicher und nicht von Zensur betroffener Künstler zu reflektieren, der in eine nicht-westliche Kultur eindringt, sie dokumentiert und als Kunstwerk vermarktet. Mirzoeffs Band The Right to Look (2012), der das subversive Potenzial von Blickbeziehungen mitdenkt, bietet hierfür einen Perspektivwechsel an:
„The right to look is not about seeing. It begins at a personal level with the look into someone else’s eyes to express friendship, solidarity, or love. That look must be mutual, each person inventing the other, or it fails. As such, it is unrepresentable. The right to look claims autonomy, not individualism or voyeurism, but the claim to a political subjectivity and collectivity.“[5]
Ebenso wird ein Vergleich zu weiteren Fotoarbeiten Polkes gezogen, wie seine in Afghanistan und Pakistan angefertigten Aufnahmen, die an die historische ‚Orientfotografie‘ des 19. Jahrhunderts anknüpfen.[6] Dabei zeigt sich einerseits eine über sexuelle Orientierung herausgehende, interkulturelle Auseinandersetzung, andererseits lassen sich durch die darin aufgeworfenen Problematiken der westlichen Exotisierung des ‚Orients‘, respektive des ‚Anderen‘, Verbindungslinien nach Brasilien ziehen. Auch die ethischen Problematiken der Street Photography sollen diskutiert werden, wie der Balanceakt zwischen künstlerischer Freiheit und dem Recht der Fotografierten auf Privatsphäre,[7] die auch Polkes Aufnahmen von schlafenden, obdachlosen Menschen in NYC aufwerfen.
Die skizzierten fotohistorischen und theoretischen Diskurse werden mit einer materialbasierten Betrachtung zusammengedacht, die nach Franziska Kunze die Opazität der Fotografien als künstlerische Strategie unter die Lupe nimmt.[8] Was bedeuten die von Polke im Nachgang vorgenommenen chemischen Manipulationen des heiklen Aufnahmematerials? Sind sie inhaltlich, als durchkreuzende, gar als schützende Bildschicht zu denken? Oder aber sind sie den medienspezifischen Auseinandersetzungen der 1970er Jahre geschuldet, die mit der Greenberg’schen Abbilddoktrin[9] einer möglichst detailgetreuen und unverzerrten fotografischen Aufnahme brachen? Um diese Fragen zu beantworten, soll eine vergleichende Untersuchung der Negative mit der letztlichen materiellen Beschaffenheit der Werke erfolgen, in der sich eine Verschiebung der Bildmodalität des Schnappschusses zur künstlerischen Intervention veräußert.[10]
Diese erste Verortung Fotoserie São Paulo verdeutlicht, welche potenziellen Fallstricke das Fotografieren queerer Gemeinschaften in fremden Kulturkreisen nach sich zieht. Eine Analyse nach queer-feministischen und postkolonialen Ansätzen erlaubt jedoch, die Vielschichtigkeit und Rezeption der Serie genauer zu erfassen. Eine lokalbezogene und materialbasierte Analyse der Foto-Objekte eröffnet eine weitere Dimension der Untersuchung, indem sie Polkes künstlerischen Strategien und technischen Entscheidungen in den Kontext seiner Zeit setzt und zugleich daraus hervorhebt.
[1] Siehe dazu weiterführend: James N. Green, „‘Who Is the Macho Who Wants to Kill Me?‘ Male Homosexuality, Revolutionary Masculinity, and the Brazilian Armed Struggle of the 1960s and 1970s“, in: Hispanic American Historical Review, Jg. 92, Nr. 3, S. 437-469.
[2] Vgl. u.a. Franziska Kunze, „Sigmar Polkes Materialisierungsstrategien von Vergangenheitsphantasmen“, in: Anna Polke-Stiftung (Hg.), Reader: Produktive Bildstörung. Sigmar Polke und aktuelle Perspektiven, Berlin: Distanz Verlag 2023, S. 163-172; Max Wechsler, „Sigmar Polke. West German Pavilion, Biennale“, in: Artforum, Oktober 1986, 25. Jg., Nr. 2, S. 142.
[3] Susanne Huber, „Act and Position“, in: Snaps from a Queer Angle, Still Searching…
Blog des Fotomuseum Winterthur, 21.08.2020,
https://www.fotomuseum.ch/de/2020/08/21/act-and-position/
[4] Der Thematik nahm sich jüngst die Gruppenausstellung Stereo_Typen, die 2019 im Kunstmuseum in Bonn stattfand, näher an, in die auch Polkes Fotoserie Weihnachten bei Polke (1973) eingebunden wurde. Vgl. Peter Backof, „Die Ausstellung ‚Stereo_Typen‘. Überwindung des Geschlechts“, in: Deutschlandfunk, 25.3.2019,
https://www.deutschlandfunk.de/die-ausstellung-stereo-typen-ueberwindung-des-geschlechts-100.html
[5] Nicholas Mirzoeff, „The Right to Look. Or, How to Think With and Against Visuality”, in: ders., The Right to Look. A Counterhistory of Visuality, London: Duke University Press 2011, S. 1-34: 1.
[6] Siehe dazu weiterführend: Silke Lemmes u. Nina Weimer (Hg.), Sigmar Polke.
Road trip through the Middle East. Pictorial Photography from Afghanistan and Pakistan, Ausst.-Kat.
Sies + Höke, Düsseldorf 2020.
[7] Lorenz Müller-Tamm, Street Photography und Persönlichkeitsrecht, Baden-Baden: Nomos 2023 [= Bild und Recht - Studien zur Regulierung des Visuellen, Bd. 12].
[8] Franziska Kunze, Opake Fotografien. Das Sichtbarmachen fotografischer Materialität als künstlerische Strategie, Reimer: Berlin 2019.
[9] Clement Greenberg, „Das Glasauge der Kamera [= „The Camera‘s Glas Eye“, 1946], S. 107-113 u. ders., „Vier Fotografen“ [= „Four Photographs“, 1964], in: ders. (Hg.), Essenz der Moderne. Ausgewählte Essays und Kritiken, Amsterdam u. Dresden: Verlag der Kunst G+B Fine Arts 1997, S. 336-343.
[10] Weiterführend: Lilian Haberer, „Re-Produktion, Sigmar Polkes Materialinterventionen als ästhetische, gesellschaftliche Praktiken.“, in: Anna Polke-Stiftung (Hg.), Reader: Produktive Bildstörung. Sigmar Polke und aktuelle Perspektiven, Berlin: Distanz Verlag 2023, S. 13-20. Haberer verweist auf Polkes Dekonstruktion „gesellschaftlicher Behauptungen und Darstellungen“ auf materieller bzw. verfahrenstechnischer Ebene.
Mona Schubert ist Kunsthistorikerin und freie Kuratorin. Aktuell promoviert sie zur Fotografie auf der documenta an der a.r.t.e.s. Graduate School in Köln. Zuvor war sie wiss. Mitarbeiterin des FWF-Projekts „Bildtechniken der Ko-Produktion“ an der Universität Graz und Assistenzkuratorin am Fotomuseum Winterthur. Ihre Forschungsinteressen umfassen Fotografie an der Schnittstelle von Kunst-, Technik- und Mediengeschichte, fotografische Ausstellungspraxen und (post-)digitale Bildpraktiken.
STIPENDIAT*INNEN 2023
Dr. AnJA Isabel Schneider, Kosmische (Un)ordnung: Sigmar Polke und der Zirkus
„Gerade das, was der Zirkus ist, steht aber nicht fest.“[1]
Aufgrund seiner Unbestimmtheit und des utopischen, revolutionären Potenzials übt der Zirkus seit jeher eine große Anziehungskraft auf Künstler:innen, Filmemacher:innen und Schriftsteller:innen aus. Auch im Werk Sigmar Polkes tritt das Sujet in Erscheinung. Wenn wir dem Motiv des Zirkus in Polkes Œuvre nachgehen, lässt sich eine Linie ziehen, die von den frühen Rasterbildern, etwa Zirkus, 1966, bis hin zu seinen späteren Arbeiten, wie Zirkusfiguren, 2005, reicht. Dieses Forschungsprojekt beabsichtigt, einen Beitrag zur Analyse von Sigmar Polkes Werk und dessen Verbindungen zum Zirkus zu leisten – und zwar aus einer Perspektive, die sowohl dialogisch als auch transdisziplinär vorgeht.
Ausgehend von Polkes facettenreichen künstlerischen Ansätzen, die den Zirkus oder Elemente davon in Werken wie Messerwerfer, 1975, thematisieren, und neben der Analyse des Begriffs Zirkus als potenzielle Metapher für Polkes künstlerische Grundhaltung, erweist sich das Thema auch dann als höchst fruchtbar, wenn Polkes Erbe in Dialog gebracht wird mit anderen künstlerischen wie theoretischen Positionen. Demzufolge wird das Projekt nicht nur Arbeiten des Künstlers in den Blick nehmen, sondern auch andere Stimmen hinzuziehen: aus Vergangenheit und Gegenwart sowie aus unterschiedlichen Medien. Eine der Stimmen ist die des Autors und Filmemachers Alexander Kluge. Seine Faszination für den Zirkus mündete in diverse Filme, literarische Texte und Ausstellungsprojekte und unterstreicht die erwähnte Relationalität, die sich bei ihm in Form vielgestaltiger Dialoge herausbildet. „Ohne von anderen Gestirnen beleuchtet zu werden,“ bemerkt Kluge auf eindrückliche Art, „leuchtet mein Mond nicht.“[2] Polkes Werk, so lautet meine These, verfügt über eine solche erleuchtende Kraft.[3]
Das Thema Zirkus steht in Verbindung mit verschiedenen thematischen Strängen, die Sigmar Polkes Œuvre durchziehen. Zweifelsfrei stellt Polkes Auseinandersetzung mit diesem Motiv nicht nur Bezüge zu gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Kontexten her und prangert etwa die politische Schwäche, utopischen Träumen nachzuhängen, kritisch als reines Bauen von Luftschlössern an, sondern bringt auch einen alternativen Raum ins allgemeine Bewusstsein – einen Raum, der üblicherweise am Rande der Gesellschaft liegt und kaum wahrgenommen wird. Die Figur, die ihn verkörpert, so wage ich zu behaupten, ist der Seiltänzer[4] und „andere Ärialisten“: Ihre riskanten, „Saltos sind das Äußerste, was der menschliche Körper hergibt, aber er gibt sie her.“[5] Wenn das utopische Element des Zirkus von Denkern wie Ernst Bloch, Walter Benjamin oder Siegfried Kracauer hervorgehoben wird, die dem Zirkus das utopische Potenzial zur Umkehrung der konventionellen Weltordnungen zuschreiben[6] – das heißt das Vermögen, all die Regeln, Zwänge und Restriktionen, die unsere Realität bestimmen, außer Kraft zu setzen, selbst wenn dies nur temporär geschieht – so ist es an uns zu fragen: Welche andere Art von Raum beziehungsweise Räumen wird in den hier ausgewählten Arbeiten unter ebendiesem Oberbegriff dargestellt oder berührt; ganz gleich, ob nun die Zirkuskuppel oder andere für den Zirkus typische Räume? Wollen wir neue Perspektiven auf Sigmar Polkes künstlerische Produktion eröffnen, stellt sich die Frage, welche Formen von Solidarität, Kooperation oder Widerstand in der aktuellen Auseinandersetzung mit dem Zirkus in Forschung und Praxis identifiziert werden können.[7]
Mehrere der Markenzeichen Polkes bilden das Hintergrundszenario in Zirkusfiguren, 2005: Erkennbar sind eine fotografische Straßenansicht, in Form von handgemalten Rasterpunkten umgesetzt, und ein Streifen gemusterter Stoff. In dieser Kulisse führen Clowns, Akrobaten und Tiere je einen eigenen Balanceakt vor. Die Zirkusfiguren stellt Polke einem zweiten Werk, Die Trennung des Mondes von den Einzelnen Planeten, 2005, gegenüber: eine abstrahierte Umsetzung derselben Szene, die er invertiert und spiegelverkehrt darstellt und diesmal vor ein Mosaikmuster setzt. Den nunmehr schematischen Zirkusfiguren fügt Polke zwei große Würfel hinzu, die den Vordergrund dominieren. Jenseits all dieser offenkundigen Verweise auf Begriffe wie Zufall und Spiel finden wir uns durch den Titel des Werks Die Trennung des Mondes von den Einzelnen Planeten in kosmische Sphären versetzt. Wie in Kluges Pluriversum sind kosmische Motive auch in Polkes Werk reichlich vorhanden; betrachten wir zum Beispiel sein Selbstportrait als Astronaut (Polke als Astronaut, 1968). Im gleichen Jahr erweitert der Künstler das Planetensystem gar um einen zehnten Planeten, „Polke“, den er uns zu erkunden einlädt (Erweiterung des Planetensystems um einen 10. Planeten, 1968). Wenn wir den Bogen nun erneut zum Werk Die Trennung des Mondes von den Einzelnen Planeten schlagen, kommt uns eine Zeile aus Angela Carters Nights at the Circus (Nächte im Zirkus) in den Sinn, die literarische Erforschung einer kosmischen Störung inmitten einer Überfülle von Tropen:
And the world ended.
Or so it seemed.
Some kind of cosmic disorder, some belch or hiccup in the digestive order of the Galaxy…[8]
(Und die Welt nahm ein Ende.
Oder nur scheinbar so.
Eine Art kosmische Unordnung, ein Aufstoßen oder Schluckauf
im Verdauungssystem der Galaxy...)
[1] Alexander Kluge, Die Artisten in der Zirkuskuppel, ratlos (München: Piper, 1968), S. 47.
[2] Alexander Kluge, in „Glückliche Umstände, leihweise: Alexander Kluge im Gespräch mit Thomas Combrink“, (Hrsg.), Glückliche Umstände, leihweise (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2008), S. 338-339.
[3] Siehe Kluges Hommage an Polke Achsenzeit Axial Age (Hommage an Sigmar Polke), 2021, Produktive Bildstörung. Sigmar Polke und aktuelle künstlerische Positionen, http://www.festival-anna-polke-stiftung.com (letzter Zugriff am 1. Juni 2023).
[4] Polke ist seinerseits als Seiltänzer beschrieben worden: „[…] ein Seiltänzer, ein richtiger Artist, ohne Netz und ohne doppelten Boden“. Bruno Brunnet, „Im stillen Gedenken an Schlingelchen“, BZ-Berlin, 13.06.2010.
[5] Ernst Bloch, „Bessere Luftschlösser in Jahrmarkt und Zirkus, in Märchen und Kolportage,” [1959] in Das Prinzip Hoffnung, Kapitel 1-32 (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1985), S. 423 und 422.
[6] Siehe u.a. Sigfried Kracauer, „Akrobat – schöön“ in Johanna Rosenberg (Hrsg.), Siegfried Kracauer, Der verbotene Blick – Beobachtungen, Analyse, Kritiken (Leipzig: Reclam, 1992), S.172-185.
[7] Siehe zum Beispiel https://www.circusanditsothers.org (letzter Zugriff am 3. Juni 2023).
[8] Angela Carter, Nights at the Circus, 1984, Manuskript zu ihrem magisch-realistischen Roman, unpaginiert. Dt. Übersetzung hier von artlanguage, Beeby & Bürger.
Anja Isabel Schneider ist Wissenschaftlerin, Kuratorin und Autorin. Sie erwarb ein MA in Kunstgeschichte am Courtauld Institute of Art und ein MFA in Kuratorischer Praxis von Goldsmiths, University of London. Von 2015 bis 2020 hatte sie eine Doktorandenstelle für kuratorische Forschung am M HKA, Museum of Contemporary Art, Antwerpen / LGC, KU Leuven & UC Louvain inne. Sie präsentierte ihre Forschungsergebnisse und kuratorischen Projekte an Institutionen wie u.a. MG+MSUM, Moderna galerija, Ljubljana (im Rahmen von L’Internationale); Fundació Antoni Tàpies, Barcelona; TBA21, Wien; Palais de Tokyo, Paris; JA.CA, Belo Horizonte; MARCO, Vigo; FRAC Lorraine; Goethe Institut/École des Beaux Arts, Nancy. Schneider ist derzeit assoziiertes Mitglied der Forschungsgruppe ARTEA, Madrid. Von Oktober bis Dezember 2023 ist sie Forschungsstipendiatin am DFK Paris.
Dr. Daniel Spaulding, DIE (IR)RATIONALITÄTEN DES ZEICHENSETZENS IM WERK SIGMAR POLKES
Dieses Projekt ist Teil einer umfassenderen Studie, die sich mit der Wechselbeziehung zwischen kapitalistischer Rationalisierung und mimetischen Praktiken im Verlauf des vergangenen Jahrhunderts befasst. Die eigentliche Frage, die meiner Forschung zugrunde liegt, lautet einfach: „Ist Kunstmachen ein rationales Unternehmen?“ Im frühen 20. Jahrhundert richteten sich viele avantgardistische Praktiken am Vorbild der wissenschaftlichen Forschung oder mathematischer Berechnungen aus; man denke beispielsweise an die russischen Konstruktivisten oder Piet Mondrians Neoplastizismus. Diese rationalistischen Ansprüche ironisierte Sigmar Polke in bekannten Arbeiten wie Moderne Kunst (1968) offenbar schonungslos. Dessen ungeachtet befasst sich Polkes Kunst der 1960er- und 1970er-Jahre intensiv mit modernen Techniken der mechanischen Reproduktion, etwa dem Rasterdruck, während sein Ansatz zur manuellen Geste den intuitiven Expressionismus der vorhergegangenen Generation an Künstler*innen der Moderne zugleich untergräbt. In meiner durch das Stipendium der Anna Polke-Stiftung geförderten Forschungsarbeit beabsichtige ich, dieser Dialektik in Polkes Kunst auf den Grund zu gehen. Konkret möchte ich die zwei Formen untersuchen, die ich Raster und Schnörkel nenne. Das Raster ist eine Mimesis der automatisierten Verfahren zur Produktion von Bildern, wohingegen der Schnörkel eine Mimesis des „freien“ gestischen Ausdrucks ist. Wichtig ist dabei zum einen, dass keine der beiden Formen vollkommen identisch mit der Art Zeichensetzung ist, die imitiert wird, und zum zweiten, dass keine unabhängig von der anderen existiert; vielmehr setzt die technische Reproduktion irrationale Impulse außer Kraft, während im Gegenzug quasi-dadaistische Absurditäten die technische Rationalität unterminieren. Die zusammengefassten Ergebnisse meiner Forschungen werden in ein Kapitel meines Buches einfließen, in dem ich drei Momente der Korrelation zwischen Kunst und moderner technischer/ökonomischer Rationalisierung erörtere, nämlich 1) die Diskurse über Mimesis und Konstruktion der 1920er-Jahre; 2) die Wechselbeziehungen zwischen Kunst, Arbeit und kapitalistischer Produktion in der Bundesrepublik Deutschland der 1960er- und 1970er-Jahre; sowie 3) das seltsame Zusammentreffen eines neuen Animismus in der Kunstwelt („Die Handlungsmacht der Dinge“; „lebendige Materialität“) mit dem technologischen Aufwärtstrend der künstlichen Intelligenz und insbesondere der neuen bilderzeugenden Algorithmen des frühen 21. Jahrhunderts.
Daniel Spaulding ist Assistant Professor of Modern and Contemporary Art an der University of Wisconsin-Madison. Seine Forschung konzentriert sich auf die westeuropäische Kunst des 20. Jahrhunderts, die globale Moderne, Kritische Theorie und die Geschichte der Kunstgeschichte. Professor Spaulding war zuvor im Curatorial Department des Getty Research Institute tätig und lehrte am ArtCenter College of Design in Pasadena, Kalifornien. Er schließt derzeit eine Monografie über den Künstler Joseph Beuys ab, die auf seiner 2017 an der Yale University fertiggestellten Dissertation basiert, und beendet einen Sammelband über die Romantik in den visuellen Künsten. Vergangene oder bevorstehende Veröffentlichungen seiner Schriften betreffen eine Reihe von Publikationen, u.a. das Journal of Art Historiography, October, Oxford Art Journal, Res: Anthropology and Aesthetics sowie die Zeitschrift für Kunstgeschichte. Spaulding ist Mitbegründer und Co-Herausgeber des Magazins Selva: A Journal of the History of Art (selvajournal.org). Er wurde 2022 mit dem Joseph Beuys Preis für Forschung ausgezeichnet und erhielt 2023 ein Wallace Fellowship der Villa I Tatti – The Harvard Center for Italian Renaissance Studies.
STIPENDIAT*INNEN 2022
lUCY DEGENS, Kollektives Leben und Arbeiten um Sigmar Polke am Gaspelshof in Willich
„Well, you know, sometimes I need to work alone; and sometimes I need to work with others; and sometimes it is necessary to just play“.[i]
So äußerte sich Sigmar Polke gegenüber Barbara Reise, die ihn 1976 auf dem Gaspelshof in Willich besuchte.
Auf diesem ehemaligen Bauernhof lebte der Künstler von 1972 bis 1978 in dynamischem Zusammenleben mit verschiedenen Bekanntschaften. Oft als „hippieske Kommune“ bezeichnet, wurden die Betten von verschiedenen Gästen temporär und wechselnd belegt.[ii] Der ehemalige Galerist Erhard Klein formuliert: „Da wurde getrunken, gehascht, geliebt, gemalt, gereist, musiziert und gearbeitet“.[iii] Dieser Lebensstil materialisierte sich in kollaborativen Werken und Ausstellungen, wie der Ausstellung Mu Nieltnam Netorruprup, die 1975 als Gruppenausstellung mit Achim Duchow, Astrid Heibach und Memphis Schulze stattfand[iv], der Künstlerzeitung Day by Day … They Take Some Brain Away und der Teilnahme an der 13. Bienal de São Paulo, mit denen die 1970er- Jahre in dem Werk Polkes und anderer herausstechen. Das gemeinsame Arbeiten mit anderen Künstler*innen war ein nahezu natürlich auftretender Prozess, eine Nezessität, verkittet mit dem Gaspelshof und den 1970er-Jahren.
Die Bedeutsamkeit dieser Zeitspanne für das Schaffen Sigmar Polkes wurde insbesondere in den 2000er und 2010er-Jahren mehrfach aufs Tableau gebracht. Zeugnisse dieses Interesses sind unter anderem die Ausstellungen 2009 in der Hamburger Kunsthalle, 2014 im Museum of Modern Art in New York und 2019 im Museum für Gegenwartskunst in Siegen. Doch wurde das kollektive Leben und Arbeiten in Willich mit besonderem Fokus auf Sigmar Polke und die Zeitspanne der 1970er-Jahre betrachtet, wodurch zeitliche Kontexte sowie Einflüsse der Künstler*innen, die Zeit in Willich verbrachten, ausgespart wurden. Die Thematisierung des künstlerischen Austauschs um den Gaspelshof bleibt daher bisher oberflächlich und oft einseitig geschildert, indem Polke (insbesondere bezüglich Achim Duchow) als Ideenherd dargestellt und auch die Autorschaft an kollaborativen Erzeugnissen, retrospektiv ihm zugeschrieben wird.[v]
Der exklusive Fokus der jüngeren Ausstellungen auf die 1970er-Jahre droht gleichsam eine zeitliche Entkontextualisierung dieser Schaffensphase zu bewirken. Schon in den 60er-Jahren sind die kollektive Werkgenese und das Thema multipler Autorschaft – beispielsweise Kollaborationen mit Christof Kohlhöfer und Gerhard Richter – Bestandteil von Polkes Arbeiten. Diese Entwicklung bildet einen wichtigen Anteil dieser kunstwissenschaftlichen Untersuchung.
Im Austausch mit Zeitzeug*innen und der Aufarbeitung von Werken und Dokumenten der 1970er-Jahre sollen mit dieser Forschungsarbeit die Informationen über das Leben auf dem Gaspelshof angereichert und auf dieser Basis die dort geschaffene Kunst kontextualisiert und gemeinsam betrachtet werden. Das Forschungsinteresse ist, die bestehende exkludierende Betrachtung einzelner Werkgruppen Sigmar Polkes auszuweiten und größere historische und soziale Zusammenhänge zu skizzieren.
[i] Reise, Barbara: Who, What Is ‚Sigmar Polke‘, in: Studio International, 982. 1976, S. 84.
[ii] Steffen, Katharina: Day by Day … ein Flashback mit Zukunft, in: Sigmar Polke: Wir Kleinbürger! Zeitgenossen und Zeitgenossinnen. Die 1970er Jahre, hg. von Petra Lange-Berndt/Dietmar Rübel (Hamburg, Kunsthalle Hamburg,
13. März 2009 bis 17. Januar 2010) Köln 2009, S. 296.
[iii] Sigmar Polke. Photographs (1964-1990), hg. von Silke Lemmes/Bianca Quasebarth (Düsseldorf, Sies + Höke, 28. Juni bis 28. August 2021; Berlin, Galerie Kicken, 21. Januar bis 4. März 2022) Düsseldorf/Berlin 2022, S. 108.
[iv] Lange-Berndt, Petra/ Rübel, Dietmar: Third Reich’n’Roll. Nationalsozialismus als Tabu und Provokation, in: Singular/Plural. Kollaborationen in der Post-Pop-Polit-Arena Düsseldorf 1969–1980, hg. von Petra Lange-Berndt/ Dietmar Rübel/Max Schulze/Gregor Jansen (Düsseldorf, Kunsthalle Düsseldorf, 8. Juli bis 1. Oktober) Köln 2017,
S. 125.
[v] Schulze, Max: A Planet Where Time Misbehaves, in: Singular/Plural. Kollaborationen in der Post-Pop-Polit-Arena Düsseldorf 1969–1980, hg. von Petra Lange-Berndt/Dietmar Rübel/Max Schulze/Gregor Jansen (Düsseldorf, Kunsthalle Düsseldorf, 8. Juli bis 1. Oktober) Köln 2017, S. 183.
Lucy Degens ist Kunsthistorikerin und Medienkulturwissenschaftlerin. Sie schließt mit einer Arbeit über den Gaspelshof in Willich derzeit ihr Masterstudium Kunstvermittlung und Kulturmanagement and der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf ab. Seit 2016 ist sie insbesondere im Rheinland sowie in Berlin für verschiedene Museen, Galerien und Vereine tätig gewesen. Ihre Forschungs- und Arbeitsschwerpunkte liegen auf der zeitgenössischen Kunst und Nachkriegskunst.
Mateusz Sapija, INNERHALB UND AUSSERHALB VON OST UND WEST. SIGMAR POLKE UND OSTEUROPA
Im Alter von vier Jahren flüchtete der im damals schlesischen Oels geborene Polke gemeinsam mit seiner Familie – im Zuge der Vertreibung der Deutschen aus der heute polnischen Stadt – in die russisch besetzte DDR. Acht Jahre später zog die Familie nach Westdeutschland weiter, wo Sigmar Polke von jener Zeit an wohnhaft war. Obgleich seine Wurzeln ins heutige Polen zurückreichen, wird Polkes Œuvre üblicherweise im Kontext der westlichen Hemisphäre diskutiert. Indessen ist seine Beziehung zu Osteuropa noch immer wenig erforscht.
Obwohl Polke noch ein Kind war, als er den Osten verließ und in den Westen umsiedelte, war er reif genug, die unstabile Realität der Nachkriegszeit und den Spannungszustand zu erfassen, durch den der Ostblock gekennzeichnet war. Seine Ankunft in Westdeutschland bedeutete das Ankommen in der Realität des gewaltigen soziopolitischen und wirtschaftlichen Fortschritts der späten 1950er-Jahre, die durch das Wirtschaftswunder geprägt waren – wobei sich das ökonomische Phänomen nicht nur auf den materiellen Wohlstand beschränkte, sondern auch für die Bildung einer neuen nationalen Identität wichtig war. Polke behielt eine gelassene Distanz zu diesem Paradigma bei, wie seine oft wiederholten Worte belegen: „Als ich in den Westen kam, sah ich viele, viele Dinge zum ersten Mal. Ich habe den Wohlstand des Westens aber auch kritisch gesehen. Es war nicht wirklich der Himmel. (…) Diese Einstellung – das, was passiert, von einer Perspektive außerhalb anzuschauen – gehört noch immer zu meiner Arbeit“. [1] Als Mensch, der nicht nur Außenseiter, sondern auch ein notorischer Einsiedler war, weigerte sich Polke, an Erklärungen seines Werks mitzuwirken und schirmte zudem auch sein Privatleben extrem ab. Die Interpretation und Geschichte seines Œuvres wurden infolgedessen weitestgehend von der Kunstwelt konstruiert, die ihn in den Kontext der westlichen Hemisphäre positionierte – was hauptsächlich dadurch zu erklären ist, dass die damaligen Grundhaltungen vom Kalten Krieg beeinflusst waren und das Vermächtnis dieses Konflikts das kunsthistorische Denken nachhaltig beeinflusst hat. Das vorliegende Forschungsprojekt spürt diesen Entwicklungen zum einen in Polkes persönlicher und künstlerischer Geschichte nach und zielt zum anderen darauf ab, den Mangel an Analysen seines Werks aus ebendiesem Blickwinkel zu beheben. Mittels tiefgehender archivalischer Recherchen und Revision der entsprechenden Literatur soll die Verbindung zwischen Polke und Osteuropa erforscht und neu entdeckt werden.
In einem zweiten Strang der Untersuchung befasst sich das Projekt mit Polkes Einfluss auf die osteuropäische künstlerische Produktion, den er einerseits auf Künstler und Gruppen direkt ausübte, die ihm begegneten oder in denselben Ausstellungen vertreten waren – der aber auch eine indirekte Wirkung zeigte, als Konsequenz der bahnbrechenden Praxis Sigmar Polkes und seinem formativen Ansatz zum Medium Malerei. Eine Bestandsaufnahme der gegenwärtigen Forschung offenbart, dass, obwohl Forschungsprojekte zu den Formen des künstlerischen Austauschs zwischen Ost- und Westdeutschland und Europa durchaus existieren, diese jedoch bislang keinen Niederschlag im primären Diskurs gefunden haben. Erhärten lässt sich diese These im Kontext der kulturpolitischen Entspannung seit der Amtszeit Erich Honeckers 1971 und insbesondere nachdem 1973 der Grundlagenvertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik in Kraft getreten war und die ostdeutschen Künstler begannen, regelmäßig nach Westeuropa zu reisen. Obwohl die Berliner Mauer Reisen in den Westen demnach schwieriger machte, hielt sie Osteuropäer keineswegs davon ab, solche zu unternehmen, noch verhinderte sie, dass osteuropäische Kunst in Ausstellungen gezeigt wurde. Anhand mehrerer Beispiele wird Polkes grundlegender Einfluss auf osteuropäische Kunst deutlich, aufgezeigt wird jedoch auch das komplexe System von Beziehungen und Haltungen seinem Vermächtnis gegenüber. Die weitere Erforschung dieser Positionen, die dieses Projekt mithilfe von Interviews mit osteuropäischen Künstler*innen unternimmt, wird primär eine bislang unerforschte Sicht auf Polke begründen und sein Werk in neuem Licht zeigen – im Kontext der geänderten künstlerischen Geografie Europas und einer Neubewertung der Beziehungen innerhalb des Kontinents in Bezug auf Zentrum und Peripherie.
[1] Sigmar Polke in Martin Gayford, A Weird Intelligence. Modern Painters 16, Nr. 4 (2004), S. 78–85, S. 78.
Mateusz Sapija ist Wissenschaftler und Kurator. Er erwarb ein MA in Museum Studies von der UCL Qatar und machte seinen Abschluss am Goldsmiths College im Studiengang MFA Curating. Sapija promoviert in Kunstgeschichte am Edinburgh College of Art, sein PhD trägt den Titel The Rise of Post-Democracy in Contemporary European Art. Derzeit ist er als DAAD-Stipendiat zur Promotion am Geschwister-Scholl-Institut für Politikwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München tätig. Er arbeitete mit einer Reihe von Kunstinstitutionen an diversen Projekten – u.a. dem Haus der Kulturen der Welt (Berlin), Asakusa (Tokio) sowie der Sharjah Biennial 12 oder documenta 14 – in Funktionen, die das Recherchieren, Kuratieren oder die Entwicklung öffentlicher Programme umfassten.
Dr. Luke Smythe, POLKE UND EINE GESCHICHTE DER MATERIALIEN
Sigmar Polke ist für seine vielen Formen der Auseinandersetzung mit allen Arten von materiellen Substanzen in seiner Kunst bekannt. Betrachtet man jedoch die entsprechenden Studien, die die Entwicklungen der Kunst in den jüngsten Jahrzehnten in Hinblick auf den Stellenwert des Materials beleuchten, stellt man fest, dass sein Werk bislang keinen Platz darin gefunden hat. Basierend auf diesen Überlegungen hat sich mein Forschungsprojekt der Aufgabe verschrieben, eine neue ‚Material History‘, eine Geschichte der Materialien in Polkes Kunst zu schreiben. Indem ich die Funktion der Materialien in seinem Werk tiefergehend untersuche und seine Partnerschaften mit nichtmenschlichen Akteuren in den Blick nehme, ziele ich zum einen darauf ab, ein klareres Bild seiner Ansätze zu Materie und Materialien zu etablieren, und ihn zum zweiten – über den langen Lauf seiner Kariere hinweg – innerhalb des Nexus solcher künstlerischer Praktiken zu positionieren, die sich in verwandten, aber eigenen Praktiken mit der Materie und ihren kreativen Möglichkeiten auseinandergesetzt haben.
Es besteht kein Mangel an Erörterungen der unzähligen Experimente mit Materialien von Polke, jedoch sind diese häufig auf einzelne Werkgruppen fokussiert. Seine Haltung zur eigenen Kraft der Materialien ist ebenfalls umfänglich diskutiert worden, überwiegend jedoch in Bezug zu Bewegungen wie Informel, Dada und Surrealismus sowie seinem Interesse an Alchemie und Kunstgeschichte. Im Gegensatz dazu möchte ich einen umfassenderen Überblick darüber bieten, wie sich sein Verhältnis zu Materie und Materialien über alle Bereiche seiner Praxis hinweg zwischen den 1960er-Jahren und seinem Ableben entwickelt hat. Ich plane darüber hinaus, Bezüge zwischen seinem Werk und anderen Stilen und Bewegungen herzustellen, denen Materie ein primäres Anliegen ist. Meine Betrachtungen aus dieser Perspektive werden es mir ermöglichen, die Hypothese zu erforschen, dass Polke aufgrund seines Empfindungsvermögens für Materialien kunsthistorisch zwischen zwei Generationen von Künstlern positioniert werden kann: Auf der einen Seite stehen dabei die europäischen Maler der Nachkriegszeit, für die materielle Substanzen – in Gestalt von zerbrochenen Objekten und ausgelöschten Körpern – ein Synonym für Vernichtung waren, und auf der anderen eine Reihe zeitgenössischer Positionen, die Formen der Materie als wichtige und autonome Quelle der Kreativität in den Dienst nehmen.
Während der ersten Phase von Polkes Karriere war sein Werk sichtlich von den Zerstörungen überschattet, die der Krieg hinterlassen hatte. Statt Materie jedoch im rohen und beeinträchtigten Zustand zu evozieren, wie es in der Nachkriegszeit etwa in der Manier solch etablierter Maler wie Jean Fautrier, Jean Dubuffet oder Alberto Burri üblich war, setzte er sich mit industriell gefertigten Materialien in Gestalt von Konsumartikeln und gedruckten Bildern auseinander. Obwohl ihm die Entbehrungen der frühen Nachkriegsjahre bewusst waren, verfolgte Polke in seinem von Pop Art beeinflussten Werk der 1960er-Jahre das Anliegen, seine Bedenken hinsichtlich der Wiederinstandsetzungskultur zum Ausdruck zu bringen. Während die Kontrolle der Natur durch die Industrie im Zuge des Wiederaufbaus immer größere Ausmaße annahm, hatte sich eine Lebenswelt als Standard etabliert, die durch und durch vom Materiellen geprägt war. Eine Folge dieser Entwicklung war, dass sich die Leben der bürgerlichen Mittelschicht genauso banal und konform gestalteten wie die Produkte, die von ihnen konsumiert wurden. Davon frustriert, begann Polke in seinen Arbeiten der 1970er-Jahre, die von neuen Ansätzen zu Materialien geprägt waren, eben diesen Stand der Dinge offenzulegen und zu hinterfragen.
Zu dieser Zeit begann er, mit rohen und instabilen Substanzen zu arbeiten, deren Eigendynamik er nur teilweise kontrollierte. Durch dieses Vorgehen machte er sich eine freiere, kooperativere Vorstellung von Subjekt-Objekt-Beziehungen zu eigen, als sie in der breiteren Kultur vorzufinden war. Sein Einsatz von LSD als Element, das aktiv zu seinem Werk beitrug, war ein weiteres wichtiges Kennzeichen dieser Verlagerung. Die Droge stattete sein Empfindungsvermögen mit neuen kreativen Fähigkeiten aus, und etliche der aus der Einnahme resultierenden Erfahrungen fanden den Weg zurück in seine Kunst. Doch wer oder was war für die Arbeiten, die unter solchem Einfluss entstanden, im eigentlichen Sinne verantwortlich? In jedem Fall waren mehrere kreative Akteure im Spiel, die für eine gewisse Zeit ineinander verschränkt waren, bis hin zu dem Punkt, an dem ihre jeweiligen Beiträge nicht länger auseinandergehalten werden können. Im Verlauf seiner weiteren Karriere hieß er derartig verwickelte Arrangements in immer stärkerem Maß willkommen und erweiterte ihre Parameter zunehmend.
Stellt man sich Polkes Werk als ein derartiges kooperatives Unterfangen vor, so eröffnet sich ein neuer Weg, seinen Umgang mit materiellen Substanzen zu interpretieren. Polke sah sie durchaus nicht als etwas Minderwertiges oder Verachtenswertes – im Gegensatz dazu, wie Künstler der Nachkriegszeit oder andere Künstler, die in der Tradition des Formlosen arbeiteten, ihre Materialien verstanden. Vielmehr erhob er die Materie in ihrem Status, er stellte sie über die vollständige Form. Selbst wenn seine Arbeiten formlos und minderwertig erscheinen, rufen sie Reaktionen der Bewunderung hervor und werden als Ausdruck einer transformativen Seltsamkeit gesehen, die durch den autonomen Einfluss instabiler Materialien befördert wird.
Das Positionieren Polkes als Zelebrant der Materie – mit wachsamem Auge für die Verschränkung von Akteuren, die nicht strikt voneinander zu trennen sind – rückt ihn in die Nachbarschaft von Positionen aus jüngerer Zeit wie Olafur Eliasson, Herwig Weiser, Susanne Kriemann und vielen anderen mehr, die in ihren Werken die Aufmerksamkeit auf die Wirkmächtigkeit nichtmenschlicher Akteure richten, häufig auf ökologischer Basis und mit Blick auf die Erweiterung unserer Vorstellungen dessen, was als lebendig, kreativ oder intelligent erachtet werden kann. Ich bin mir noch nicht sicher, wie eng er auf eine Linie mit solchen Positionen zu bringen ist, doch es ist mein Anliegen, diese Beziehung zu erhellen, neben anderen Fragestellungen, die mit seinem Platz innerhalb der Geschichte der Materialien in Verbindung stehen.
Luke Smythe ist Senior Lecturer in Kunstgeschichte an der Monash University. Seine Artikel und Essays über moderne und zeitgenössische Kunst sind in zahlreichen Zeitschriften und Katalogen erschienen, u.a. in October, Modernism/modernity und dem Oxford Art Journal. Smythe ist Verfasser zweier Bücher: Gretchen Albrecht: Between Gesture and Geometry (Massey University Press, 2019) sowie Gerhard Richter, Individualism, and Belonging in West Germany (Routledge, 2022). Von 2012 bis 2014 war er Gastkurator für Nachkriegskunst an der Pinakothek der Moderne in München.
STIPENDIAT*INNEN 2021
Tereza de Arruda, M.A., DAY BY DAY – SIGMAR POLKE STARTS AN AWAY DIALOGUE
Day by Day – Sigmar Polke Starts an Away Dialogue
(Tag für Tag – Sigmar Polke beginnt einen Dialog anderswo)
Die Bedeutung und Rezeption der künstlerischen Produktion Sigmar Polkes in Europa und Nordamerika sind lang etabliert und in zahllosen Fassetten ihres künstlerischen Potentials aufgearbeitet. Für das Stipendienprogramm der Anna Polke Stiftung schlage ich vor, Sigmar Polkes Werk in Kontexten jenseits des europäischen und nordamerikanischen Raums zu analysieren und mögliche Bezüge und Dialoge zu diesen herauszustellen. Im Rahmen dieser Nachforschungen werde ich mein Augenmerk auf seine Teilnahme an zwei bestimmten Biennalen richten – São Paulo und Havanna.
1975 nahm Sigmar Polke an der XIII Bienal de São Paulo teil, wo er seine erste internationale Auszeichnung empfing, den Preis für Malerei der Stadt São Paulo. Für die deutsche Teilnahme an der Biennale war Evelyn Weiss als Kommissarin eingesetzt, die neben Polke auch Georg Baselitz und Blinky Palermo einlud, Deutschland in São Paulo zu repräsentieren. Im offiziellen Ausstellungskatalog begründet sie ihre Wahl wie folgt: „Drei Künstler, drei grundverschiedene Positionen im Umgang mit Malerei. Das wird bereits in der jeweiligen Technik erkennbar: Der eine malt mit den Fingern (Baselitz), der andere benutzt Sprühfarben und Collage (Polke), und der dritte setzt ausschließlich den Pinsel ein (Palermo).”[1] Ihre Entscheidung für Polke führt sie hiernach näher aus: „Polke pflegt einen sehr unorthodoxen und eigenwilligen Umgang mit Inhalten und Ausdrucksformen. Seine Herangehensweise, die eng mit seinem Umfeld und der Gesellschaft verbunden ist, findet ihren Niederschlag in Arbeiten, für die er häufig auch mit Freunden und Bekannten zusammenarbeitet.“[2]
Sigmar Polke reiste als junger Künstler nach São Paulo, um an der Biennale teilzunehmen. Er sah sich mit einem Land inmitten einer Militärdiktatur konfrontiert, deren Strukturen hinter Rhythmen, Schönheit und einem tropischen Lebensgefühl nur schwer erkennbar waren. Die örtliche Kunstszene macht von allerlei Kunstgriffen Gebrauch, um ihre Freiheit des Ausdrucks zu verteidigen. Schon damals zeigten sich in Polke typische Merkmale seiner Persönlichkeit, und er wusste seine künstlerische Position wohl zu verteidigen. Neugierig, souverän und mit einer Portion Ironie trat er in São Paulo auf, und in seiner Wertschätzung der dortigen Gesellschaft verband sich die Lässigkeit eines Flaneurs mit Entdeckergeist und dem kritischen Auge eines Künstlers, bestrebt, seine Reiseerlebnisse genauestens festzuhalten, aufzuzeichnen und zu bewahren. Ein Dokument dieser Eindrücke ist der von ihm produzierte 16-mm-Film Sigmar Polke. São Paulo, 1973–75 (28 Min.). Der Soundtrack, ein Auszug aus der 1972 erschienenen Publikation Brasilien – Rechtsdiktatur zwischen Armut und Revolution von Márcio M. Alves, ist ein Beleg, dass Polke sich stets der Kontexte bewusst war, in die er sich begab.
Nach dieser ersten Begegnung mit Südamerika kehrte Sigmar Polke nie wieder nach Brasilien zurück. Auf der anderen Seite war sein Engagement in der internationalen Kunstszene weitreichend, kultiviert und imstande, einen globalen Dialog zu etablieren. Mein Interesse an dieser Forschungsarbeit ist u.a. herauszufinden, wie bewusst sich Sigmar Polke der örtlichen Kunstszene und den dazugehörigen künstlerischen Bewegungen war, neben der Bedeutung, die einer Präsentation seines Werks in einem solchen Kontext zukäme. 45 Jahre nach dieser Begebenheit ist der Reiz groß, einen Dialog zwischen Sigmar Polke und den Protagonisten der örtlichen Kunstszene in einer direkten Gegenüberstellung zu eröffnen. Aus heutiger Sicht sollte eine solche Analyse sowohl unter dem Aspekt der Zeit als auch von einer kunsthistorischen Perspektive gesehen und in dem Wissen erfolgen, dass Sigmar Polke jederzeit eine starke Verbindung zu seinen Künstlerkollegen hatte, wie von Evelyn Weiss oben beschrieben.
Polke seinerseits war ein scharfsinniger und kritischer Beobachter der Wirtschaftswunderjahre, Fortschritte im Nachkriegsdeutschland, die er mit eigenen Augen oder durch das Kameraobjektiv sah und in persönlichen Eindrücken festhielt. Die resultierende bunte Sammlung bildete den Grundstock seines Archivs, dessen Bestandteile in seiner immensen kreativen Produktion kontinuierlich neu kombiniert und sowohl mit Freunden als auch im Kunstkontext geteilt wurden. „Die Fotokamera Polkes war bei allen Reisen, Ausstellungseröffnungen, freundschaftlichen Aktivitäten und gemeinsamen Spielen dabei. Das Leben war eine Performance. Und immer ging es ihm wie den anderen Künstlern darum, die künstlerische Produktion und den künstlerischen Habitus neu zu finden. Prägend war die Übertragung der Kritik an bürgerlichen Ordnungen auf die eigene Lebensführung, so dass Kunst, revolutionärer Zeitgeist und Alltag sich gegenseitig durchdrangen.“[3]
Dieses Stipendium wird mir die Gelegenheit bieten, meine Forschungsarbeit zur Rezeption von Sigmar Polkes Werk in Brasilien in zweierlei Hinsicht zu vertiefen, zum einen mit Blick auf die Ausstellungen, an denen er teilnahm, und zum anderen den intensiven Dialog seiner eigenen Produktion mit den Werken von Protagonisten der zeitgenössischen Kunst Brasiliens. Außerdem werde ich für die Forschungen im Rahmen dieses Stipendiums Sigmar Polkes Teilnahme an der für 14. Havanna Biennale thematisieren. Insbesondere werde ich die Reaktionen und potenziell konstruktiven Dialoge analysieren, die sich aus der Konfrontation mit dem Werk Sigmar Polkes in einem der letzten kommunistischen Staaten auf der Welt entwickeln werden. Polke betonte oft den Konflikt des Menschen, der, metaphorisch gesehen, zwischen der Grundbedingung Staat und der eigenen Realität und Fantasie zerrieben zu werden droht. Bis zu einem gewissen Grad spielt diese Spannung in seinem Werk eine subtil ironische Rolle. Sigmar Polke verwendet magische Formeln und das Mittel der Metamorphose als Ausdrucksform, wobei das Spektrum von Trivialität bis Hochkultur reicht und er sich zwischen Politik, Ökonomie, den Wissenschaften, Glaubensfragen, gesellschaftlichen Verhaltensformen und anderen Bereichen hin und her bewegt. In ebendiesem Universum proklamierte er den ‚kapitalistischen Realismus‘, der im Gegensatz zum ‚offiziellen‘ sozialistischen Realismus, der Staatsform der DDR ab Ende des Zweiten Weltkriegs bis 1989, stand. Kuba ist eines der letzten verbliebenen Reminiszenzen dieses politischen Vermächtnisses. Die Havanna Biennale wiederum ist eine der wenigen relevanten kulturellen Plattformen mit dem Potenzial, einen interkontinentalen Dialog zu inspirieren und ein Verständnis der vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Perspektiven der kulturellen Beziehungen zu Kuba zu befördern.
[1] Evelyn Weiss, Alemanha, in: Ausst.-Kat. XII Bienal de São Paulo, São Paulo 1975, S. 26.
[2] Ebd.
[3] Aus dem Pressetext der Ausstellung Sigmar Polke und die 1970er Jahre, 4.11.2018–10.03.2019, Museum für Gegenwartskunst Siegen.
Tereza de Arruda ist Kunsthistorikerin und Kuratorin und arbeitet seit den 1990er Jahren mit zahlreichen internationalen Institutionen. Sie ist seit 1997 Beraterin der Havanna Biennale, seit 2015 Co-Kuratorin der Kunsthalle Rostock und zwischen 2009 und 2019 Co-Kuratorin der Curitiba International Biennale. Aufgrund ihres großen Interesses am Werk von Sigmar Polke kuratierte sie 2011 die Ausstellung Sigmar Polke Capitalist Realism and other illustrated histories im Museu de Arte de São Paulo (MASP) mit Werken von Polke aus der Sammlung Kunstraum am Limes sowie 2017 die Ausstellung Sigmar Polke - Die Editionen im me Collectors Room Berlin, die von einer Publikation im König Verlag begleitet wurde.
Dr. Ian Rothwell, POLKE'S BAD DRAWING
Polke’s Bad Drawing ist ein Projekt über Sigmar Polkes Sinn für Humor, insbesondere in Hinblick auf sein zeichnerisches Werk der 1960er-Jahre, der Zeit, als er sich (gemeinsam mit Gerhard Richter, Konrad Lueg und Manfred Kuttner) zum ‚kapitalistischen Realisten‘ erklärte. In dieser Periode produzierte er eine Reihe von Zeichnungen von Konsumgütern, die häufig auf zerknitterten Fetzen Papier entstanden und von einer provisorischen, legeren, schludrigen und nachlässigen Ästhetik geprägt sind. Sie wirken wie gewollt schlecht ausgeführte Versionen der Pop Art, wie sie zu der Zeit aus Amerika kam. Über die Arbeiten ist viel geschrieben worden, nicht zuletzt von Mark Godfrey, Dietmar Rübel und Darsie Alexander in der Publikation Living with Pop. A Reproduction of Capitalist Realism (2013) sowie im Katalog zu einer Ausstellung 1999 im Museum of Modern Art, New York, mit dem Titel Sigmar Polke. Works on Paper, 1963–1974.
Auf der etablierten Literatur über Polkes zeichnerisches Werk aufbauend, bietet dieses Projekt einen neuen Blickwinkel auf die künstlerische Methodik dieser Arbeiten an, die, wie ich argumentieren werde, absichtlich schlecht gemacht sind und bewusst ironisch, sarkastisch und dumm auftreten. In ebendiesem Kontext untersucht das Projekt Polkes Sinn für Humor. Dieser ist ein wichtiger, essenzieller Aspekt in seinem Œuvre wie auch in seinem gesamten ästhetischen Empfindungsvermögen. Gleichwohl wurde Polkes Humor bisher noch keine maßgebliche wissenschaftliche Aufmerksamkeit zuteil. Meiner Überzeugung nach veranschaulichen Polkes ‚Bad Drawings‘ (schlecht ausgeführte Zeichnungen) seinen Sinn für Humor auf beispielhafte Art und Weise. Das ist der Grund, warum sie unsere Aufmerksamkeit verdienen. Sie sind komisch. Doch ihr Humor ist eine Art Anti-Humor – ein ironisches Produkt, hervorgegangen aus einem scheinbaren Mangel an handwerklichem Geschick, an fachlicher Kompetenz und, noch wesentlicher, dem Fehlen einer klaren kritischen oder politischen Position. Diese Defizite vermitteln sich auf eine Art und Weise, die wir als komisch empfinden.
Ich möchte diesem Sinn für Humor auf den Grund gehen. Wie kann eine Untersuchung von Polkes Humor die Analyse dieser Werke ergänzen? Was an Polkes Stil oder an seinem ‚zeichnerischen Können‘ lässt sie ironisch erscheinen? Wie zeichnet ein Künstler auf eine sarkastische Art? Inwieweit ist Polkes Stil eine Reaktion auf den deutschen soziokulturellen Kontext? Wie können wir diese Reaktion bewerten? Inwiefern können wir Polkes ironischen, sarkastischen Humor oder Anti-Humor als kritisch erachten?
Obgleich die ‚Bad Drawings‘ in den 1960er-Jahren entstanden sind, tritt durch meine Auseinandersetzung mit ihnen speziell in Hinblick auf ihren Humor zudem ein sehr zeitgenössisches Problem zutage, dem das Projekt gleichfalls nachgehen wird. Polkes ironischer und sarkastischer Stil nimmt die Disposition eines Großteils der Post-Internet-Kunst und -Kultur vorweg, die häufig für den Gebrauch von Ironie und Sarkasmus als Überkompensation für einen mutmaßlichen Mangel an Kritikfähigkeit kritisiert wird. Diese Empfänglichkeit ist despektierlich als ‚aufstrebenden Nihilismus‘ etikettiert worden, eine Kultur des Sarkasmus und der Anti-Establishment-Stimmung, wie sie einst den Linken vorbehalten war, die mittlerweile jedoch von der neoreaktionären und hämisch-freudevollen Soziopathie der Alt-Right-Ideologie sowie dem im Silicon Valley vorherrschenden Imperativ des ‚Störens‘ restlos absorbiert worden ist.
Es besteht das Risiko, dass Polkes ‚Bad Drawings‘ und sein besonderer Sinn für Humor mit diesem Gegenstand des‚aufstrebenden Nihilismus‘ gleichgesetzt wird. Insofern ist eine nuancierte Analyse von strategischen Formen der Ironie und des Sarkasmus in der Kunstproduktion zwingend notwendig. Sie ist erforderlich, damit wir künstlerische Formen wie Polkes ‚Bad Drawings‘ aus diesen schädlichen zeitgenössischen soziokulturellen Trends herauslösen können. Von dieser Grundlage ausgehend wird dieses Projekt argumentieren, dass Polkes ‚Bad Drawings‘ als strategisches Modell für eine ironische und sarkastische Form der Kunstproduktion gesehen werden können, die dem zeitgenössischen Trend des ‚aufstrebenden Nihilismus‘ Widerstand entgegensetzt und statt hämisch-schadenfroher Soziopathie ein kritisches Bewusstsein produziert.
Dr. Ian Rothwell ist Kunsthistoriker mit Schwerpunkt zeitgenössische Kunst und digitale Kultur. Er erwarb 2017 sein PhD in Kunstgeschichte an der University of Edinburgh für ein Projekt mit dem Titel Images under Control: Pessimism, Humour, and Stupidity in the Digital Age. Rothwell lehrt derzeit als Teaching Fellow in Modern and Contemporary Art an der University of Edinburgh, wo er Wahlkurse zu ‚Art and Digital Culture‘ und ‚Bad Painting‘ anbietet. Letztere untersuchen, weshalb Malerei als das „bad object“ der zeitgenössischen Kunst erachtet wird. Er arbeitet außerdem an einer Monografie mit dem Titel The Afterlives of Post Internet Art, die 2022 bei Routledge erscheinen wird.
STIPENDIAT*INNEN 2020
Ksenija Tschetschik-Hammerl, M.A., Hasenschleife. Dürer-Appropriation bei Sigmar Polke
Zwei Motive aus dem Œuvre des Nürnberger Renaissancemalers Albrecht Dürer tauchen mehrmals im Werk Sigmar Polkes auf. Zum einen schenkte Polke seine Aufmerksamkeit dem berühmten Aquarell Der Feldhase aus der Wiener Albertina, zum anderen kopierte er die grazilen Linienschleifen von Dürers Randzeichnungen im Gebetbuch Kaiser Maximilians und vom großformatigen Holzschnitt Der Große Triumphwagen. Sigmar Polkes künstlerische Sprache, in welcher heterogene Motive, Materialien und Techniken miteinander verwoben sind und vielfach in verschiedenen Zusammenhängen wiederaufkommen, legt nahe, dass auch Dürersche Motive in seinem Schaffen im Bezug zueinander stehen und ein komplexes und dynamisches Verhältnis des Künstlers zu seinem älteren Kollegen reflektieren. Im vorliegenden Forschungsprojekt werden erstmals Polkes Auswahl und Verwendung von Dürer-Motiven in Relation zueinander betrachtet. Es wird versucht, Polkes Appropriation von Werken des Nürnberger Meisters als einen mehrere Jahrzehnte umfassenden Prozess der künstlerischen Auseinandersetzung zu rekonstruieren.
Die Methode der künstlerischen Appropriation gilt als eine der wichtigsten Ausdrucksweisen und Strategien in der modernen und postmodernen Kunst. Der Begriff Appropriation Art etablierte sich in der Kunstkritik seit der wegweisenden New Yorker Ausstellung Pictures im Jahr 1977, in welcher Werke einiger junger US-amerikanischer Künstlerinnen und Künstler gezeigt wurden. Obwohl die Erscheinungsweisen der beteiligten Beiträge erheblich divergierten, war die Nachahmung nicht-eigener Bildlichkeit für alle Projekte charakteristisch. Die Nachahmung der Werke anderer sowie verschiedene Vereinnahmungen des ‚Fremden’ können auch in Werken von vormodernen Künstlerinnen und Künstlern bereits festgestellt werden. In der kunsthistorischen Forschung werden diese Praktiken zumeist mit Lernabsichten, Verpflichtung zu einem Kanon oder mit agonalen Beweggründen erklärt. Selten werden für die Nachahmungspraktiken in der älteren Kunst reflexive oder kritische künstlerische Motivationen erwogen. Im Gegensatz dazu werden verschiedene Formen der Nachahmung und Verarbeitung nicht-eigener Bilder oder anderer Gegenstände in der Kunst des 20. und des 21. Jahrhunderts überwiegend als subversive und kritische Ausdruckstrategien gedeutet. Die Besonderheit der kunstkritischen und kunsthistorischen Rezeptionen von Polkes Appropriationen nach Dürer-Werken besteht bisher gerade darin, dass diese durch zwei konträr wirkende Deutungsperspektiven geprägt sind und dadurch den Eindruck einer irritierend inkongruenten Sichtweise Polkes auf Dürer entstehen lassen.
Während Polkes Werke mit dem Motiv des Dürer-Hasen als Persiflage auf die Konsumkultur der Nachkriegszeit oder als Trivialisierung der künstlerischen Tradition Erklärung finden, werden seine Adoptionen der Dürerschen Linienschleifen vorrangig als überaus ernste Auseinandersetzung mit dem schöpferischen Impetus Dürers oder zumindest mit seinem künstlerischen Status interpretiert. Der aktuelle Forschungsstand zu Polkes Dürer-Rezeption weist damit widersprüchliche und beinahe sich gegenseitig ausschließende Erklärungskonzepte auf und fordert zu einer eingehenden Neubetrachtung heraus. Im vorliegenden Forschungsprojekt wird das Zusammenspiel verschiedener Appropriationen von Dürers Werken im Schaffen Sigmar Polkes ins Visier genommen. Im Rahmen der Untersuchung werden die grundlegenden Fragen der Polke-Forschung berührt, wie beispielsweise die Korrelation zwischen der Ironie und dem Interesse an schöpferischen und generativen Prozessen in seiner Kunst. Des Weiteren wird auch nochmals die Bedeutung der Autorschaft und der künstlerischen Autorität in Polkes Werk hinterfragt.
Ksenija Tschetschik-Hammerl studierte Kunst- und Bildgeschichte sowie Neuere und Neueste Geschichte an der Humboldt-Universität in Berlin. Im Februar 2020 reichte sie ebendort ihre Dissertation mit dem Titel Originalität der Nachahmung um 1600. Kunst begegnet Natur bei Hans Hoffmann und Daniel Fröschel ein. Das Dissertationsprojekt wurde durch die Gerda Henkel Stiftung gefördert. Sie war zudem als Lehrbeauftragte im Fach Kunstgeschichte am Caspar-David-Friedrich-Institut in Greifswald tätig. Zu ihren Lehr- und Forschungsschwerpunkten gehören Kunst- und Sammlungspraxis in der Frühen Neuzeit, Monogramme und Signaturen sowie künstlerische Appropriationspraktiken von der Frühen Neuzeit bis heute.
Magnus Schäfer, M.A., Es gibt kein Zuviel an Information. Sigmar Polke und das Digitale
Von den 1960er Jahren bis in die erste Dekade des 21. Jahrhunderts hat Sigmar Polke in seinem vielgestaltigen Werk die Konventionen künstlerischer Medien wie Malerei, Zeichnung, Fotografie, Film und Sprache befragt und gezielt unterlaufen. Während er nominell an diesen Medien festhielt, unterwarf er sie einem Prozess der Grenzauflösung, der etablierte Gewissheiten über ihre Erscheinungsweisen und Funktionen weit hinter sich ließ. Der Zeitraum, in dem Polke gearbeitet hat, fällt zusammen mit der zunehmenden Verbreitung digitaler Kommunikations- und Bildmedien. Dies wirft die Frage auf, inwieweit sich Polkes Bilder in einen produktiven Dialog mit dieser Entwicklung stellen lassen. Dabei interessiert weniger die Rolle, die digitale Bilder als solche in Polkes Arbeit gespielt haben, denn diese ist relativ gering. Vielmehr wird das Forschungsprojekt Es gibt kein Zuviel an Information. Sigmar Polke und das Digitale untersuchen, in welchen Formen das Verhältnis zwischen der Kontinuität des Realen und ihrer Übersetzung in diskrete Information, welche das Digitale kennzeichnet, in Polkes hybriden Bildmedien zum Tragen kommt.
Wie Rachel Jans und Kathrin Rottmann in ihren Beiträgen zu dem Katalog Alibis: Sigmar Polke 1963-2010 darlegen, weisen einige Arbeiten von Polke aus den 1960er Jahren auf eine Vertrautheit mit den technisch-formalen Grundlagen des in einzelne Bildpunkte aufgerasterten Fernsehbilds (vermittelt durch seinen Lehrer Karl-Otto Götz) und dem binären An/Aus-Schema digitaler Operationen hin. Die Tatsache, dass Polke digitale Kommunikation 1968 als telepathische Sitzung mit dem verstorbenen Dichter William Blake imaginiert, macht allerdings deutlich, dass der Ernst, mit dem Zeitgenossen wie Max Bense wenige Jahre zuvor Kommunikationstheorie als Grundlage für eine neue Ästhetik vorgeschlagen hatten, Polkes künstlerischer Sensibilität diametral entgegengesetzt ist.
In den frühen 1980er Jahren stellen sich die Dinge jedoch etwas anders dar. The Copyist (1982) zeigt im Vordergrund eine Figur, die über ein Pult gebeugt in ein großes Buch schreibt. Dieser mittelalterliche Abschreiber stellt keine Kopie eines anderen Manuskriptes her, sondern sieht sich einer Landschaft gegenüber, die er – so suggeriert die Komposition – verschriftlicht; er überführt den phänomenologischen Reichtum des Gesehenen in ein diskretes und symbolisches Medium, und erschließt ihn so weiteren Formen der Datenverarbeitung.
Am anderen Ende des medialen Spektrums stehen Polkes neuartige gestisch-abstrakte Arbeiten wie das Negativwert-Triptychon, das ebenfalls 1982 entstanden ist. Diese Bilder weisen irisierende Oberflächeneffekte auf, die Polke durch eine spezielle Behandlung violetter Farbpigmente erzielte, und die sich je nach dem Standpunkt der Betrachter*innen ändern, so dass die drei Leinwände von unterschiedlichen Perspektiven aus dramatisch verschieden erscheinen können. Diese Effekte – und mithin die Bilder als solche – sind nur schwer fotografisch festzuhalten und widersetzen sich mithin der Speicherung als diskrete Information. Polke entwickelt diesen experimentellen Ansatz zu einem Zeitpunkt, als die elektronische Datenverarbeitung zunehmend an Bedeutung und Sichtbarkeit gewinnt. Mit der in den späten 1970er Jahren eingeführten Technik der Rasterfahndung etablierte sich die automatisierte Datenverarbeitung im gesellschaftlichen Bewusstsein der BRD. Etwa zeitlich kamen die ersten PCs auf den Markt. Vor diesem Hintergrund könnten Polkes abstrakte Bilder unter Bezugnahme auf den Medientheoretiker Friedrich Kittler als das Rauschen verstanden werden, das aller Kommunikation unterliegt und zugleich das unschreibbare Gegenstück zu dem Symbolischen bildet.
Ebenfalls seit den 1980er Jahren unternahm Polke erste Experimente mit Fotokopierern. Vergrößerungen von Bildern aus Zeitungen und Zeitschriften ließen das Druckraster der Vorlagen deutlich zum Vorschein treten – ein Effekt, den er seit den 1960er Jahren manuell reproduziert hatte – und erzeugten dabei durch die Ungenauigkeit des Kopierprozesses bisher unsichtbare Konstellationen von Rasterpunkten, die Polke bisweilen durch zusätzliche Graphismen erweiterte oder kommentierte, um ihnen einen figurativen Sinn zu geben. Indem er die Vorlagen während des Kopiervorgangs bewegte, verzerrte er gegenständliche Motive, wodurch sie mitunter in Abstraktion umschlugen (z.B. in dem Portfolio Kugelsichere Ferien von 1995). Im Vokabular der Kommunikationstheorie steht Rauschen für zu viele Wahlmöglichkeiten auf der Empfängerseite, also einen Überschuss an Information, der Bedeutung auslöscht. Um Information ökonomisch zu übertragen gilt es dagegen, den idealen Abstand zwischen Bedeutung und dem unumgänglichen Rauschen zu erzielen. Polkes Fotokopie-Experimente zeigen allerdings, dass ein ‚Zuviel‘ an Information auch zu neuen Bedeutungen führen kann und eröffnen so dem Rauschen eine produktive Dimension.
Im Hinblick auf den Stellenwert des Digitalen in Polkes späteren Arbeiten stellt sich darüber hinaus die Frage, inwieweit die Gegenüberstellung mit Hito Steyerls Konzept des ‚armen‘ Bildes (vgl. den Aufsatz In Defense of the Poor Image von 2009) erhellend sein kann. Während es durch Medien zirkuliert, unterläuft das ‚arme‘ Bild, das prinzipiell digital ist, Prozesse der Kompression, der Qualitätsverringerung und der Kontextverschiebung und erscheint so als „visuelle Idee im Werden,“ die an die zeitgenössischen Bedingungen des Vertriebs von Bildern gekoppelt ist. Lässt sich in Polkes verzerrten Fotokopien ein analoger Vorläufer dieser ‚armen‘ Bilder ausmachen, oder aber ein Gegenmodell, das trotz formaler Ähnlichkeiten (z.B. geringe Auflösung, Reproduktionen von bereits reproduziertem Material) die Unterschiede umso deutlicher hervortreten lässt?
Magnus Schäfer ist Autor und Kurator. Von 2012 bis 2019 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Museum of Modern Art in New York, wo er die Retrospektiven Alibis: Sigmar Polke 1963–2010 (2014) und Bruce Nauman: Disappearing Acts (2018/19) mitverantwortete und Projects 195: Park McArthur, McArthurs erste institutionelle Einzelausstellung in New York, kuratierte. Gemeinsam mit Hannes Loichinger veröffentlichte er 2015 die erste umfassende Monographie zu Ull Hohn, Foregrounds, Distances. Sein aktueller Arbeitsschwerpunkt liegt auf der Formatierung von Wahrnehmung durch digitale Medien.
STIPENDIAT*INNEN 2019
Dr. des. Dirk Hildebrandt, IN DIE FLÄCHE PUBLIZIEREN. SIGMAR POLKES (KÜNSTLER-)BÜCHER
Das durch die Anna-Polke-Stiftung geförderte Projekt In die Fläche publizieren nimmt sich die Untersuchung eines Mediums vor, das neue Einsichten auf Sigmar Polkes gesamte künstlerische Produktion in Aussicht stellt: das (Künstler-)Buch.
Dass die Kunst hier zunächst in Klammern steht, hat nicht zuletzt damit zu tun, dass Polkes Bücher nicht, jedenfalls nicht in dem Sinne als Künstlerbücher auffallen, wie man sie aus der entsprechenden Forschung kennt – etwa als besonders exaltierte und kostspielige ,Originale‘, die vor allem die Grenzen des Buch-Formates ausloten. Polkes buchförmige Publikationen erscheinen vornehmlich wie ,Wölfe im Schafspelz‘, das heißt als äußerlich eher zurückhaltend gestaltete Exemplare ihrer Zunft. Folglich wird es nicht allein darum gehen, das einzelne ,Buch als Kunstwerk‘, sondern die vielfältigen Kontexte in den Blick zu rücken, in denen Polke auf das Buch als einem Publikations-Medium für seine künstlerische Arbeit zurückgekommen ist. Das bedeutet, dass nicht nur diese Bücher selbst, sondern ihre Beziehungen zu benachbarten Formaten untersucht werden sollen, in deren Gestaltung und Publikation sich der Künstler im Laufe seiner Karriere übte (z.B. Zeitungsartikel, Editionen, Beiträge in Katalogen und Zeitschriften). Das (Künstler-)Buch interessiert, kurz gesagt, als ein Medium, das Zusammenhänge in Polkes vielgestaltigem Oeuvre zu erschließen, und verbindende Strukturen darin offenzulegen erlaubt.
Die ,Kunst‘ in Polkes (Künstler-)Büchern steht hier also nicht etwa in Klammern, weil ihr Status, ihre ,Kunsthaftigkeit‘ und Zugehörigkeit zum Oeuvre des Künstlers ungeklärt wären. Vielmehr geht es um das Buch als einen Mittler, der die in kunstferne (mithin politische) Kontexte ausgreifenden Verfahren des Künstlers, wie man sie etwa aus Polkes Malerei oder Druckgrafik kennt, noch einmal anders begreiflich zu machen erlaubt. In Bezug zu Polkes künstlerischem Oeuvre kommen dem (Künstler-)Buch dabei je unterschiedliche Funktionen zu. Es macht darin nicht nur Anschlüsse zu künstlerischen und geschichtlichen, ökonomischen und politischen Zusammenhängen sichtbar, sondern auch intermediale Prozesse lesbar. Das (Künstler-)buch verspricht, anders gesagt, in neuer Weise zwischen Malerei, Skulptur, Fotografie, Film und Kirchenfenstern, d.h. den künstlerischen Ausdrucksformen zu vermitteln, für die man die Arbeit des Künstlers gemeinhin schätzt.
Sich für den Rahmen der Untersuchung auf die Geschichte des Buchs als einem künstlerischen Ausdrucks- bzw. Publikationsmittel zu beziehen, hat den Vorteil, dass es Vorstellungen von Medialität ins Spiel bringt, die abseits der ausgetretenen Pfade der Nachkriegskunstgeschichte liegen. Anders etwa als die Malerei erscheint das Buch per se als ein Medium, das seinen eigenen Gegenstandsbereich durch Anleihen bei anderen und unterschiedlichen Medien definiert. Um diese ,Andersartigkeit‘ im Hinblick auf Polkes Kunst in sinnhafter Weise darstellen zu können, bleibt es gleichwohl unabdingbar, sich eng an die ,bisherige‘ Geschichte zu halten. Um die Verbindungen von Buch und Malerei zu untersuchen, stehen Konzepte von ,Flachheit‘ zur Verfügung. Waren diese Konzepte, zumal unter den Bedingungen der 1960er Jahre, noch eng an die Auseinandersetzung mit der Malerei gekoppelt, so nimmt sich das Projekt In die Fläche publizieren die Untersuchung einer intermedialen Flachheit vor, die es erlauben soll, den vielfältigen technischen, künstlerischen und kontextuellen Zusammenhängen durch Sigmar Polkes Kunstschaffen zu folgen.
Dirk Hildebrandt ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Kunsthistorischen Institut der Universität zu Köln (Schwerpunkt Moderne/Gegenwart und ästhetische Theorien); Studium der Kunstgeschichte und Philosophie in Bonn, Paris und Basel. Promotion an der Universität Basel (The Extension of Art. Allan Kaprow und der Werkbegriff des Happenings); aktuelle Arbeitsschwerpunkte: Asger Jorn und die Netzwerke der europäischen Nachkriegskunst, Künstlerbücher und Prozesse intermedialen Schreibens, Kunst- und Künstlertheorien der Moderne und Gegenwart.
Dr. Julie Sissia, „CHER MAÎTRE“. SIGMAR POLKE UND FRANKREICH
„Sigmar Polke (1941–2010) ist einer der großen Maler der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Wir wissen das überall in Europa, außer in Frankreich [....]“[1].
In diesem lapidaren Satz bedauert der Kunsthistoriker Philippe Dagen in der Tageszeitung Le Monde 2013 das mangelnde Interesse der französischen Museen für Sigmar Polke. Während der Künstler im MoMA und in der Tate Modern gefeiert wurde, bevorzugte das Musée national d’Art moderne in Paris Anselm Kiefer und Jeff Koons. Diese Kritik ist jedoch differenzierter zu betrachten.
„Cher Maître“ (Lieber Meister)... Mit Bewunderung wendet sich Suzanne Pagé während der Vorbereitung seiner Ausstellung im Musée d'Art moderne de la Ville de Paris (1988)[2]an Sigmar Polke. Als Direktorin des Museums und des ARC – ein im selben Gebäude untergebrachter expermenteller Kunstraum – hat Suzanne Pagé seit Anfang der 1970er Jahre diese Institution zu einem unverzichtbaren Ort der zeitgenössischen Kunst in Frankreich gemacht. Dort hat sie insbesondere deutsche Künstler der Generation von Sigmar Polke gefördert. Im Jahr 1981 war Polke in der Ausstellung Art Allemagne Aujourd’hui zu sehen; gemeinsam mit dem berühmten Berliner Galeristen René Block brachte sie Künstler zusammen, die die BRD zu einem der dynamischsten Kunstzentren der Welt gemacht hatten[3]. Die späte Anerkennung einer ganzen Generation deutscher Künstler durch die französischen Museen war die Konsequenz der schmerzhaften Geschichte zwischen den beiden Ländern; sie war auch die Folge der Nichtbereitschaft französischer Kritiker und Kunsthistoriker seit den 60er Jahren zu akzeptieren, dass Paris nicht mehr die internationale Hauptstadt der Kunst war. Die Anerkennung der deutschen Künstler in Frankreich war in den 1980er Jahren jedoch alles andere als einstimmig.
Während in den 1980er Jahren die von mehreren deutschen Künstlern beanspruchte deutsche Identität bestimmte Protagonisten der französischen Kunstwelt irritierte, genoss Sigmar Polke einstimmig Anerkennung. Welchen Platz nimmt er also im französischen Diskurs ein, und nach welchen Kriterien werden seine Werke wahrgenommen? Ich möchte hinterfragen, inwiefern die französischen Kunsthistoriker und -kritiker Sigmar Polke dennoch politisch betrachten. Zwar hielt sich der Künstler von nationalen Kategorien fern, und wurde daher nicht als „deutscher Künstler“ kategorisiert. Aber wie sein Werk kann auch seine französische Rezeption nicht deswegen als unpolitisch betrachtet werden. Von der Zweihundertjahrfeier der Französischen Revolution (1989) bis zur Ausstellung Les Magiciens de la terre – die auch Teil dieser Feierlichkeiten war – stehen Polkes Werke im Mittelpunkt künstlerischer Veranstaltungen mit starken politischen Inhalten, die die Geschichte Frankreichs in einer internationalen Perspektive ebenso wie ihren Platz in einer zunehmend globalisierten Welt hinterfragen.
Inwiefern betrachteten die französischen Kritiker, aber auch Künstler, Polkes Werk als Inbegriff neuer künstlerischer Paradigmen? Gibt es, in einer Zeit der Krise der Moderne, die oft etwas hastig und generell als ,Postmoderne‘ bezeichnet wird, eine Singularität des französischen Diskurses über seine Arbeit? Die Studie möchte untersuchen, auf welchen Werten, aber auch auf welchen Vorurteilen – auch wenn sie positiv sind – der Diskurs über Polkes Arbeit beruht. Diese Hypothesen erfordern, den französischen Kontext in eine breitere Perspektive zu stellen. Auf der einen Seite ist es notwendig, die französische Rezeption mit anderen kunstkritischen Texten zu konfrontieren, sei es in Deutschland (in der einflussreichen Zeitschrift Texte zur Kunst) oder in den USA (zum Beispiel October); andererseits, die Rolle von einschlägigen Ereignissen, besonders der Biennale von Venedig 1986, zu berücksichtigen, die eine wichtige Rolle in der Betrachtung von Sigmar Polkes Werk auch in Frankreich spielten.
[1]Philippe Dagen, Comment Sigmar Polke a rajeuni le vieil art de peindre, in Le Monde, 2.12.2013.
[2]Paris, musée d’Art moderne de la Ville de Paris, Archiv der Ausstellung Polke, 20.10.–31.12.1988.
[3]Art Allemagne Aujourd’hui, Paris, musée d’Art moderne de la Ville de Paris, 17.1–8.3.1981.
Julie Sissia hat am IEP in Paris in Kunstgeschichte promoviert (2015). Sie ist assoziierte Wissenschaftlerin am Centre d'histoire de sciences Po und Lehrbeauftragte an der Ecole du Louvre. Ihr Buch Le miroir allemand. RFA et RDA dans le discours sur l’art contemporain en France. 1959–1989 wird bei Les presses du réel veröffentlicht. Im Jahr 2019 arbeitete sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Musée d'Art moderne de la Ville de Paris an der Hans Hartung Retrospektive (Herbst 2019). Von 2010 bis 2015 war sie Mitglied des Wissenschaftlerteams am Deutschen Forum für Kunstgeschichte (Paris) im Rahmen des ERC-Projekts A chacun son réel.